Der Tag ist nicht mehr fern
- Tim Kretschmer-Schmidt
- 20. Dez. 2020
- 4 Min. Lesezeit
IV. Sonntag im Advent, 22. Dezember 2013 Predigtreihe V, Text: Jesaja 52, 7-10 (Übersetzung aus der „Bibel in gerechter Sprache“) Kirchengemeinde Blankenfelde, Berlin
Unter Verwendung von Georg Friedrich Händel „Messiah“ (HWV 56), Arie Nr. 34
Die Nacht ist vorgedrungen.
Die Wächter starren von den Türmen aus in die Nacht. Hinter ihnen die Silhouette der Stadt, vor ihnen die weite Ebene mit dunklem Horizont. Kein Licht, nur die Sterne. Ihre Augen sind müde geworden. Nur noch die Angst vor der Bedrohung hält sie wach. Warten. Wachen.
Die Nacht ist vorgedrungen.
Der Vater sitzt am Krankenbett seines Sohnes auf der Intensivstation. Die Polizei hat ihn aus dem Schlaf geklingelt. Ein Unfall durch einen unachtsamen Autofahrer. Die Fahrt mit dem Taxi ins Krankenhaus. Das besorgte Gesicht der Ärztin: „Wir wissen nicht, ob ihr Sohn durchkommt.“ Warten. Wachen.
Die Nacht ist vorgedrungen.
Eine Frau sitzt am Fenster. Ist sie nun endgültig fort, diejenige, die sie so geliebt hat gegen alle Widerstände der anderen? Nach fünf Jahren gab es immer öfter Streit. Sich immer wieder zusammengerafft. Dann erneut Krach. Das Nötigste in einem Koffer. Ein klimpernder Schlüssel. Eine Tür, die sich schließt. Haben sie sich wirklich für immer verloren? Wachen. Warten.
Die Nacht ist vorgedrungen.
Auch zum Telefonseelsorger. Am anderen Ende der Leitung ein junger Mann. Depressiv und des Lebens müde. Die Tabletten in Wasser aufgelöst stehen neben ihm. Nach einem langen Gespräch der zögerliche Satz des jungen Menschen: „Vielleicht rufe ich noch mal an…“ Der Seelsorger legt erschöpft auf. Warten. Wachen.
Die Nacht ist vorgedrungen. Wachen. Warten.
Worauf wartet ihr, liebe Brüder und Schwestern? Was bedroht Euch in Eurem Leben? Was soll wieder heil werden und gut? Wonach sehnt ihr Euch in Eurem Leben? Alle Jahre wieder zerbrechen doch so viel Hoffnungen, Wünsche, Träume.
Orgelmusik: Improvisation zu „Die Nacht ist vorgedrungen“ (EG 16)
Der Tag ist nicht mehr fern.
Geräusche in der Nacht. Schritte. Die Wächter in Alarmbereitschaft. In der Morgendämmerung sehen sie Gestalten. Die Schritte dieser Menschen sind langsam und erschöpft. Ihre Sandalen haben sie längst abgelegt, ihre Stiefel und Schuhe irgendwo stehen lassen. Barfuss sind sie weitergelaufen. So sind die Füße rau geworden und blutig. Der Schmutz und Kot der Strasse hat sich in die Wunden gepresst und sie entzündet. Sie gehen dennoch weiter und weiter, trotz Schmerz und Müdigkeit. Wer gute Nachrichten überbringen soll, wer Freude verkünden will und endlich Frieden ansagen möchte, wird eher vom Herzen bewegt als von den Beinen. Und so sind es schöne Füße, die diese Menschen tragen und bewegen.
Der Tag ist nicht mehr fern. Die Ärztin kommt ans Krankenbett. In der Hand die Ergebnis der letzten Untersuchung. Ihr Gesicht müde und doch etwas aufgehellt. „Ihr Sohn ist jetzt stabil, er hat sehr gute Chancen, dass er durchkommt.“ Der Vater kann das Glück kaum fassen.
Der Tag ist nicht mehr fern. Die Frau am Fenster sieht eine dunkle Gestalt auf der Strasse, die auf die Haustür zugeht. Die Klingel zerschrillt die Stille. Der Bruder ihrer Lebensgefährtin. Eine lange, tröstende Umarmung. Die Frau kocht Tee. „Sie ist grad bei mir…“ sagt der Bruder. „Ob Du morgen zum Frühstück kommst? Sie möchte es so gerne noch einmal versuchen.“ Die Frau bricht in Tränen aus. „Ich auch… Morgen komme ich vorbei und wir reden miteinander.“ Am Horizont ein heller Schein der Versöhnung.
Der Tag ist nicht mehr fern.
Das Telefon klingelt. Es ist der junge Mensch. Der Telefonseelsorger holt tief Luft. „Sehen Sie auch die Morgendämmerung? Die Farben sind wunderschön. Den Morgenstern habe ich auch gesehen. Diesen Tag noch will ich leben!“ „Und den Tag danach?“ fragt der Telefonseelsorger. „Ich habe die Tabletten ins Waschbecken geschüttet.“ Aufatmen. „Wo“, fragt der junge Mann zögerlich, „wo kann ich mir Hilfe holen?“ Der Seelsorger nennt ihm einige Möglichkeiten. „Danke“, sagt der Anrufer. „Sie haben mir das Leben gerettet!“ Der Seelsorger sieht aus dem Fenster. Ein blauer Wintertag bricht an.
Georg Friedrich Händel „Messiah“ (HWV 56), Arie Nr. 34 „How beautiful are the feet of them“
Gesungene Worte aus dem Propheten Jesaja: „Wie schön sind auf den Bergen die Füße derjenigen, die Freude verkünden, die Frieden ansagen, Gutes verkünden, Rettung ansagen, die zu Zion sprechen: „Deine Gottheit regiert!“ Horch! Die Wachtposten erheben die Stimme, jubeln gemeinsam! Ja, Aug in Auge sehen sie, wie Gott zurückkehrt zu Zion. Brecht in Jubel aus, alle gemeinsam, ihr Trümmerreste Jerusalems, denn getröstet hat Gott das Gottesvolk, hat Jerusalem befreit. Entblößt hat Gott den heiligen Arm Vor den Augen aller fremden Völker. Es sehen aller Enden der Erde das Heil unserer Gottheit.“
Manchmal geschieht es dann doch. Dass die Bedrohung und Zerbrechlichkeit unseres Lebens durchbrochen wird von Menschen, die uns Gutes zu sagen haben. Freudenboten.
Die Trümmer und Ruinen des Lebens bleiben. Aber ein anderes Licht fällt auf sie. Morgensternlicht. Trost schleicht sich ein auf wunden, schönen Füßen. Durchatmen. Mut bekommen. Aufkeimender Jubel.
Weihnachten. Der Freudenbote Gottes will in diese Welt kommen. Das Heil, das Israel zuerst erfahren hat, wird nun auch den Enden der Erde zukommen.
Noch sind wir im Advent. Wir warten auf ihn. Horcht. Seht. Seid wach. Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.
Amen.
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