Barmherziger Gott
- Tim Kretschmer-Schmidt
- 15. Nov. 2015
- 7 Min. Lesezeit
Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr, den 15.11.2015
Kirchengemeinde zu Französisch Buchholz, Berlin
Predigtreihe I*
Predigttext des Entwurfes zur Revision der Perikopenordnung: Matthäus 25, 31-45
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.
Anmerkung: Die Situation nach den Attentaten in Paris am 13./14.11.2015 machte diesen Gottesdienst zu einem besonderen. Die Predigt war bereits am Donnerstag geschrieben, einige Dinge habe ich geändert, andere so stehen gelassen, weil sie auch in die Situation gut hineinpassten. Die Lesung Hiob 14,1-16 wurde auch in französischer Sprache vorgetragen, ebenso gab es die Möglichkeit, das Vaterunser in französisch zu beten.
Zitate aus: Friedrich Dürrenmatt. Der Verdacht – Ein Kriminalroman, in: Gesammelte Werke, vol. 4, Zürich 1996, S. 225 Karl Erich Groetzinger. Jüdisches Denken – Theologie, Philosophie, Mystik, vol. 1 Vom Gott Abrahams zum Gott des Aristoteles, Frankfurt/Main 2004, S. 237
Liebe Schwestern und Brüder!
Es sind große Bilder, die der heutige Predigttext hervorruft. Bilder voll Schrecken und Faszination. Dichterisch verarbeitet im Text der mittelalterlichen Totenmesse, neu geschrieben von Rilke und Achim von Arnim. Farbig gebannt mit Ölfarben auf Holz von Hieronymos Bosch, Michelangelo oder der Höllen-Breughel. Musikalisch untermalt in den Requien von Verdi, Mozart und Berlioz. Versuche, einen ungeheuren Text zu bannen.
Ein strafender Gott. Ewiges Feuer und ewige Strafe. Kein weiches, süsses Stück aus der Evangeliumstorte. Aber ein notwendiges Stück. Notwendig für die Menschen, die leiden und gelitten haben unter Unrecht, Gewalt, Krieg und Armut. Ein hoffnungsvoller Text für die Opfer der herrschenden Verhältnisse. Sie sollen wissen: wenn mir hier auf dieser Erde schon keine Gerechtigkeit widerfährt – dann wenigstens in der kommenden Welt.
Denn am Ende geht es nicht mehr um Reichtum und Macht, um Glanz und Herrlichkeit. Am Ende geht es darum, was man getan hat für die Ärmsten und Machtlosen, für die Dreckigsten und Geringsten in der Welt. Wenn Menschen schon zum schweigen gebracht wurde, erhebt wenigstens Gott seine Stimme für sie. Wenn Menschen hier schon machtlos sind, so gibt es doch einen Gott, der die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen aus dem Staub erhebt.
Je mehr ich an diesem vormals harten, bitteren Stück kaue, desto mehr wird mir klar: das ist ja auch meine Hoffnung. Dass die Menschenschinder und Kriegsherren am Ende von den Unerhörten das unerhörte hören. Dass ihnen die Ohren klingend schmerzen, den Fanatikern und Diktatoren. Den Geldgierigen und Machtversessenen. Den Menschenverhetzer und Demagogen. Unerhörtes werden dann auch ihre mitgelaufenen Horden hören, die sich auf Befehle oder Religion berufend mitvergangen haben an der Fülle des menschlichen Lebens und an der Schönheit der Schöpfung.
Zu diesen Horden, so bin ich sicher, gehören auch die Leute, die heute die Dom- und Theaterplätze dieser Republik füllen, wo sie sich an billigen Worten geifernder Strassenredner aufgeilen und dann enthemmt und scheinbar legitimiert zur brutalen Tat schreiten. Mögen diese Menschen alle, alle im Angesicht Gottes erkennen, dass sie Gott selbst in ihrem Mitmenschen gelästert, ausgestoßen, verletzt, getötet haben!
Und ich? Was ist mit meinen Versäumnissen aus Bequemlichkeit, meinem Sarkasmus der Abwehr, meinem Taktieren aus Ehrgeiz? Meiner Selbstsucht? Meiner Angst, abzulassen vom Geld und Besitz? Meinem mangelnden Vertrauen, dass Gott es gut meint mit meinem Leben? Summieren sich all die Kleinigkeiten nicht doch zu einem beträchtlichen Berg?
Und – noch eins draufgesetzt auf diesen Berg – eine gewichtige Tatsache, die ich nicht ändern kann: die Verhältnisse in die ich hineingeboren wurde, in denen ich lebe. Die Sünde, in die ich verstrickt bin und deren Fesseln ich nicht alleine lösen kann. Ich lebe immer auch auf Kosten der anderen! Friedrich Dürrenmatt beschreibt es schon im Jahr 1951 in seinem Kriminalroman „Der Verdacht“:
„[…] das Gute und das Böse sind inzwischen zu sehr ineinander verschlungen in der gottverlassenen Hochzeitsnacht zwischen Himmel und Hölle, die diese Menschheit gebar, um je wieder voneinander getrennt werden, um zu sagen: Dies ist wohlgetan und jedes vom Übel, dies führt zum Guten und jenes zum Schlechten. Zu spät! Wir können nicht mehr wissen, was wir tun, welche Handlung unser Gehorsam oder unsere Aufmerksamkeit nach sich zieht, welche Ausbeutung, was für ein Verbrechen an den Früchten klebt, die wir essen, am Brot und an der Milch, die wir unseren Kindern geben. Wir töten, ohne das Opfer zu sehen, und ohne von ihm zu wissen, und wir werden getötet, ohne, dass der Mörder es weiß. Zu spät! Die Versuchung dieses Daseins war zu groß und der Mensch zu klein für die Gnade, die darin besteht, zu leben und nicht vielmehr Nichts zu sein.Nun sind wir krank auf den Tod, vom Krebs unserer Taten zerfressen. Die Welt ist faul […], sie verwest wie eine schlecht gelagerte Frucht. Was wollen wir noch! Die Erde ist nicht mehr als Paradies herstellbar, der infernalische Lavastrom, den wir in den lästerlichen Tagen unserer Siege, unseres Ruhms und unseres Reichtums heraufbeschworen haben und der nun unsere Nacht erhellt, lässt sich nicht mehr in die Schächte bannen, denen er entsteigen ist.“
Machen wir uns nichts vor, liebe Schwestern und Brüder. Wir alle brauchen einen sehr sehr gnädigen Richter. Sonst wird sich am Ende der Zeiten auch für uns die Hölle auftun!
Auf der anderen Seite: Ist das noch mein Gott, ein Gott, der einen Strafort wie die Hölle überhaupt schafft? Gibt es in dieser Welt nicht schon genug menschengemachte Höllen, die so unvorstellbar schrecklich sind? Freitag Nacht in Paris. Das ist das, was Menschen in Syrien, Afghanistan, in der Ukraine täglich erleben. Das ist der Grund weswegen Menschen ihr Leben riskieren und sich auf den Weg zu uns machen. Sie suchen das, was auch wir in diesen Tagen suchen: Frieden und Schutz, Geborgenheit und Vertrauen.
Was soll das sein für ein Gott, der auch nur eins seiner geliebten Geschöpfe in die Verdammnis losläßt? Die rabbinische Auslegung der Bibel sieht Gott beständig hin- und herschwankend zwischen seinem Anspruch an die eigene Gerechtigkeit und seine Liebe zu den Menschen. Gott ist in dieser Tradition kein Prinzip und schon gar kein Prinzipienreiter. Gott ist dem Menschen ebenbildlich. Gerade in seinem beständigen Schwanken, seiner Widersprüchlichkeit, seiner Gewitztheit. Und Gott entscheidet sich am Ende immer, der eigenen Gerechtigkeit untreu zu werden zugunsten der eigenen Barmherzigkeit.
In einer Geschichte der Rabbinen kommt der Satan, der im Alten Testament nicht als Gegenspieler Gottes gesehen wird, sondern als eine Art Staatsanwalt, der Satan kommt also am Versöhnungstag zu Gott, um Israel anzuklagen und die Sünden aufzuzählen. Er ruft: „Herr der Welt. Bei den Völkern gibt es Ehebrecher, und so auch in Israel! Bei den Völkern gibt es Diebe, und so auch in Israel!“ Und der Heilige, Er sei gesegnet, bringt die Verdienste Israels herbei. Er nimmt die Waage und wiegt die Sünden gegen die Verdienste auf, und sie stehen gleich. Der Satan läuft, um noch mehr Sünden herbeizuschaffen, damit die Schale der Verfehlungen den Ausschlag gebe. Was tut der Heilige, Er sei gesegnet? Solange der Satan noch Sünden zusammensucht, nimmt ER die Sünden und steckt sie unter seinen Rock. Und wenn der Satan wiederkommt, findet er keine Sünden mehr.
Wir alle, die Unrecht getan haben in Gedanken, Worten und Werken: wir alle werden vergehen vor der Barmherzigkeit Gottes, die uns nicht im Dunkel der Schuld belässt, sondern uns in die Liebe eines neuen Anfangs ruft. Ich bin überzeugt: sollte es in der kommenden Welt überhaupt so etwas geben wie eine Hölle, dann wird sie leer bleiben. Im Angesicht der Barmherzigkeit Gottes unsere eigene Unbarmherzigkeit in so vielen Dingen eingestehen zu müssen – vielleicht ist es dieser Vorgang, der in der kirchlichen Tradition als „Fegfeuer“ bezeichnet wurde: der Moment, an dem unsere Schuld hinweggefegt wird. Und dann?
Ein Traum, den ich des Nachts einmal hatte: Ich weiß nicht mehr auf welche Weise. Ich weiß nur, ich bin gestorben. In einer Art Kino sitze ich, vor mir eine Leinwand. Stationen meines Lebens tauchen auf. Bilder, Farben, Gerüche. Stimmen, Menschen, Situationen. Mittendrin bin ich, statt nur dabei. Große Klarheit über alles erfüllt mich. Mit der Klarheit kommen die Gefühle: die große Seeligkeit, wo etwas gelungen ist. Der tiefe Schmerz, wo ich schuldig geworden bin an mir, an meinen Mitmenschen, an Gott. Am Ende dieser Rückschau das Wissen darum, wie ich, Tim Nicolai Schmidt, wirklich gemeint war von Gott. Die Einsicht, dass ich mich so oft anders hätte bewegen können auf meinem Weg. Und es aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht getan habe. Wo ich nicht so war, wie Gott mich gemeint hat. Einsichten, die sich in mir ausbreiten mit feurig brennendem Schmerz… Schnitt. Ein neues Bild, das letzte dieses Traumes. Ich sehe mich vor einer riesigen orangenen Kugel stehen. Alles ist plötzlich anders. Kein Schmerz, kein Leid, keine Tränen. Einfach nur Wärme, Licht, Liebe. Wissen: Ich bin da.
Amen. So soll es sein!
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